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Kristina, vergiss nicht... von Willi Fährmann. Jugendbuchempfehlung

Willi Fährmann:

Kristina, vergiss nicht ...

1. Bibliografische Angaben und Lesestufe

  • Willi Fährmann: Kristina, vergiss nicht ... Würzburg: Arena, 2006, 240 S.
  • Lesestufe: 9. Klasse

2. Inhaltsangabe

Die 15-jährige Kristina Bienmann und ihr Bruder Janec leben mit ihrer Mutter und Großmutter als deutschstämmige Familie in Polen; der Vater ist bereits vor einigen Jahren nach Deutschland ausgewandert. Kristina hat einen großen Freundeskreis, ist sehr unternehmungslustig und die Querflöte ist ihre große Leidenschaft. Sie fühlt sich wohl, auch wenn sie manchmal Vorurteile wegen ihrer deutschen Abstammung spürt. Nach zahlreichen abgelehnten Anträgen und vielen Auseinandersetzungen mit starren bürokratischen Regeln gelingt es der Großmutter 1971 schließlich, die Ausreisegenehmigung für die ganze Familie in die Bundesrepublik Deutschland zu erhalten. Kristina muss von ihrer vertrauten Heimat Abschied nehmen. Zunächst zieht sie mit ihrer Großmutter in ein Übergangswohnheim in Nordrhein-Westfalen, wo der Vater lebt, dessen Wohnung für alle jedoch zu klein ist. Dort macht Kristina ihre ersten Erfahrungen mit dem für sie ungewohnten Schulsystem. Sie erfährt Ablehnung von vielen Mitschülern und sieht sich zahlreichen Vorurteilen ausgesetzt. In Polen wurde sie als Deutsche geächtet, in Deutschland nun als Polin. Immer wieder hilft Kristina aber ihr neuer Freund John, mit dem sie schließlich eine Hausaufgabenbetreuung für Aussiedlerkinder mit schulischen Problemen gründet. Als die Großmutter stirbt, ist dies für Kristina ein schwerer Verlust. Der Tag der Beerdigung ist gleichzeitig aber auch ein Neuanfang, da die Familie endlich gemeinsam in ein Haus zieht.

3. Kurzinformationen zum Autor

Willi Fährmann, heute einer der bedeutendsten Kinder- und Jugendbuchautoren, wurde 1929 in Duisburg geboren. Er machte eine Lehre zum Maurer – ein typischer Beruf im Ruhrgebiet –, merkte aber schnell, dass er beruflich eigentlich mit Menschen arbeiten wollte. So holte er sein Abitur nach, studierte in Münster und Oberhausen und war dann als Lehrer in Duisburg, Schulleiter in Xanten und viele Jahre als Schulrat tätig. Seit seinem Ruhestand arbeitet er als freier Schriftsteller. Er besucht gerne Schulen für Lesungen und beantwortet auch unermüdlich Leserbriefe. Fährmanns Jugendbücher erzählen von individuellen Schicksalen, die  historische Gegebenheiten widerspiegeln, und beschreiben so Zeitgeschichte aus der Perspektive einfacher Menschen. In der vierteiligen Bienmann-Familiensaga werden ganz unterschiedliche Stationen der Geschichte über Generationen hinweg erzählt: Der erste Teil Der lange Weg des Lukas B., der u. a. mit dem Deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichnet wurde, erzählt von einem ostpreußischen Jungen, der im späten 19. Jahrhundert nach Amerika geht. Der Protagonist des zweiten Teils Zeit zu hassen, Zeit zu lieben erlebt die Unruhen in Deutschland 1919, im Folgeband Das Jahre der Wölfe geht es um die Flucht aus Ostpreußen während des Zweiten Weltkriegs. Das hier vorgestellte Buch Kristina, vergiss nicht ..., das auf einer Begegnung Fährmanns mit einem polnischen Aussiedlermädchen beruht und das den französischen Jugendbuchpreis Grand Prix des Treize erhielt, bildet den letzten Teil der Reihe. Zahlreiche Erzählungen spielen am Niederrhein, wo Fährmann wohnt, so zum Beispiel die Erzählung Es geschah im Nachbarhaus um die Diskriminierung eines jüdischen Händlers im 19. Jahrhundert oder die Bände Siegfried von Xanten und Kriemhilds Rache, die das Nibelungenlied nacherzählen. Besonders hervorgehoben sei zudem Fährmanns Erzählung Der überaus starke Willibald, mit der es ihm gelingt, schon Kindern im Grundschulalter das Phänomen des Nationalsozialismus altersgerecht deutlich zu machen.

4. Allgemeine Einordnung

Kristina, vergiss nicht ... kann sinnvoll in den Jahrgangsstufen 7– 9 eingesetzt werden; um die zahlreichen historischen Bezüge und die heutige Problematik der Aussiedler angemessen zu verstehen, scheint allerdings die 9. Klasse die am besten geeignete Altersstufe. Der Roman bietet drei verschiedene Lesarten an, die man je nach Schwerpunktsetzung mit unterschiedlicher Gewichtung im Unterricht thematisieren kann. Zunächst hat Kristina, vergiss nicht … eine gesellschaftskritische Dimension: Die Probleme der Aussiedler in unserer Gesellschaft werden beschrieben. Das Buch kann des Weiteren als historischer Roman gelesen werden, der zahlreiche Informationen über die Geschichte Polens liefert. Zuletzt ist das Buch auch ein Entwicklungsroman, der das Erwachsenwerden der Protagonistin schildert. Kristina setzt sich sehr genau mit ihrer eigenen deutschen und polnischen Identität auseinander, schließt neue Freundschaften, grenzt sich bewusst vom Verhalten einiger Freunde ab und muss Perspektiven für ihre Zukunft entwickeln. Darüber hinaus bietet das Buch zahlreiche Anknüpfungspunkte für eine Zusammenarbeit mit den Fächern Geschichte (Warum gibt es überhaupt deutschstämmige Familien in Polen?) und Politik (Wer hat eigentlich ein Recht auf eine Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland?).

5. Strukturelle und sprachliche Besonderheiten

Kristina, vergiss nicht ... sollte nur in einer Klasse mit nicht völlig leseunerfahrenen Schülern eingesetzt werden. Der sprachliche Ausdruck, der Stil und auch der Satzbau sind oft anspruchsvoll. Die Handlung wird aus der Sicht eines allwissenden Erzählers zwar chronologisch dargestellt, es gibt aber innere Monologe (die durch Kursivdruck kenntlich gemacht sind), Rückblicke auf geschichtliche Ereignisse und Binnengeschichten. Auch der Leseumfang von 240 Seiten (in 25 nicht nummerierten Kapiteln) ist von leseschwachen Schülern kaum zu leisten. Das Buch scheint somit nur für das Gymnasium geeignet. Entlasten kann man die komplexe Struktur, indem man den Roman zunächst vollständig lesen lässt und dann als vorbereitende Hausaufgabe jeweils einzelne Textstellen wiederholend aufgibt. Ein Schüler kann die Hausaufgabe erhalten, am Anfang der Stunde die Handlung zwischen der letzten und der aktuell vorbereiteten Textstelle zu erzählen („Erzählbrücke“ herstellen).

6. Didaktische Anregungen

Unterrichtseinstieg
Bevor die Schüler das Buch lesen, ihnen aber das Thema (oder der Klappentext) bekannt ist, können sie Vermutungen über den Titel anstellen: Was soll Kristina nicht vergessen? Diese Frage könnten die Schüler zunächst in einem „Murmelgespräch“ (ein etwa zweiminütiges Gespräch mit dem Sitznachbarn in gedämpfter Lautstärke) erörtern, dann werden die Ergebnisse vorgestellt und besprochen. In dieser Diskussion werden die Schüler bereits erkennen, dass Kristina Teile ihrer polnischen Identität aufgeben wird, wenn sie in Deutschland lebt. Sie vermuten, dass zurückgebliebene Verwandte, Freunde oder Lehrer befürchten, dass Kristina ihre Herkunft verleugnet oder diese und die polnische Sprache gar vergisst. In meinem Unterricht stellte sich ein Schüler unter dem Titel die Drohung eines Rechtsextremisten vor, der Kristina sagen will, dass sie nie eine „gleichwertige“ Deutsche sein werde, sondern nie vergessen solle, dass sie eigentlich nicht in dieses Land gehöre und sich deshalb immer unterzuordnen habe. Diese Antwort führte die Schüler bereits in eine rege Diskussion, mit welchen Schwierigkeiten und Vorurteilen Kristina in Deutschland wahrscheinlich zu kämpfen haben wird. Dieser Einstieg verschafft hohe Lesemotivation und sollte am Ende der Reihe unbedingt wieder aufgegriffen werden, um zu klären, welche der Vermutungen sich im Buch bestätigt haben. Es ist daher sinnvoll, die Ergebnisse auf einem Plakat zu sichern oder einen Schüler zu bitten, Protokoll zu führen.

Die historischen und politischen Hintergründe
Um den Roman inhaltlich besser verstehen zu können, müssen die Schüler historisches Hintergrundwissen, das in der Lektüre in zahlreichen Rückblenden angeboten wird, erarbeiten. Dazu kann man eine arbeitsteilige Gruppenarbeit durchführen, in der jede Gruppe eine Textstelle zugeteilt bekommt und Informationen zu dem historischen Kontext sammelt (Internetrecherche, evtl. in Rücksprache mit dem Geschichtslehrer). Anschließend werden die Ergebnisse chronologisch vorgestellt und z. B. an einem Zeitstrahl in der Klasse veranschaulicht. Textstellen bzw. historische Stationen, die sich für diese Gruppenarbeit anbieten, sind z. B. die Folgenden: S. 8 f.: die Großmutter erzählt vom Angriff der Russen am Ende des Zweiten Weltkrieges, S. 59: die Auswanderer nach Amerika um 1870, S. 76: die Flucht vieler Ostpreußen nach Westen, S. 95: das Wirtschaftssystem des Sozialismus und die Lebenssituation der Polen in der Zeit des Kalten Krieges. Zusätzlich sollte eine Gruppe die Aufgabe erhalten, die Geschichte Polens in einem knappen Überblick vorzustellen (hier bieten Geschichtsbücher der Klasse 9 oft geeignete Zusammenfassungen), besonderen Wert sollten sie dabei auf die polnischen Teilungen legen. Während der Präsentationen sollte unbedingt eine Karte von Polen und Deutschland in der Klasse aufgehängt werden, um alle Ereignisse auch an dieser zu veranschaulichen. Will man nicht nur die Geschichte Polens, sondern auch Kristinas Familiengeschichte thematisieren, so können zusätzlich oder alternativ einzelne Schüler oder Paare die weiteren Teile der Bienmann-Saga Der lange Weg des Lukas B., Zeit zu hassen, Zeit zu lieben und Das Jahr der Wölfe von Willi Fährmann vorstellen.

Aussiedler in Deutschland
Viele Fragen der Schüler bei der Lektüre des Romans betreffen den rechtlichen Status Kristinas und ihrer Familie sowie die Willkür, mit der sie von den polnischen Behörden behandelt werden. Man kann in diesem Zusammenhang kurz auf das politische System Polens in den 1970er Jahren eingehen (evtl. ergänzend zu der Präsentation der Schülergruppe, die sich oben mit der S. 95 beschäftigt hat), zudem muss man deutlich machen, dass es in unserem Rechtssystem nicht etwa von der Willkür oder Stimmung eines Beamten abhängt, ob ein Bürger eine Aufenthaltsgenehmigung erhält oder nicht. Die Erarbeitung dieser Fakten kann z. B. mithilfe eines Expertengespräches mit einem Mitarbeiter der Ausländerbehörde durchgeführt werden und wird dazu führen, dass zahlreiche Vorurteile („Wir nehmen doch jeden auf!“) abgebaut werden können. Aktuell bietet sich auch eine Besprechung der umstrittenen „Aufnahmetests“ für einbürgerungswillige Ausländer an, im Unterricht muss dabei aber der Unterschied zwischen Ausländern und Aussiedlern verdeutlicht werden. Evtl. in Zusammenarbeit mit dem Politik- oder  Ethikunterricht können sich die Schüler einen Eindruck vom Leben in einem Übergangs- bzw. Asylbewerberheim verschaffen. Da die Zahl dieser Heime allerdings (glücklicherweise) stark reduziert worden ist und Aussiedler nun zumeist direkt in gewachsenen Wohngebieten untergebracht werden, könnte es schwierig sein, ein solches Heim für einen Besuch zu finden. Alternativ kann man z. B. den Ausländerbeautragten der Stadt einladen, der über die Lebenssituation der Neuankömmlinge berichtet. Auch hier dient das Gespräch wieder dem Abbau von Vorurteilen („Die bekommen doch alles!“). Besonders interessant ist es, wenn Schüler, die aus anderen Ländern nach Deutschland gekommen sind, über ihre ersten Tage z. B. in der neuen Schule berichten. Gewinnbringend ist auch eine Recherche der Schüler über Integrationshilfen für Aussiedler und Ausländer in der eigenen Stadt. Die Organisationen (Sammlung von Kleiderspenden, Sprachkurse, interkulturelle Sportgruppen, ...) können jeweils von einer Schülergruppe besucht und dann auf einem Lernplakat vorgestellt werden, so dass eine Ausstellung für die Schulgemeinde
entsteht. Gleichzeitig sollten aber auch Probleme, die die Ansiedlung von Aussiedlern und Ausländern mit sich bringen können, nicht idealisierend ausgeblendet werden. So kann man mit der Klasse den Begriff „Parallelgesellschaft“ erarbeiten und auch mit aktuellen Bespielen (islamischer Religionsunterricht an deutschen Schulen?, Kopftuchverbot für Lehrer?, Ehrenmorde in türkischen Familien in Deutschland, Ausschreitungen sozial benachteiligter Jugendlicher in den Vororten von Paris, ... ) konkretisieren.

Produktionsorientierte Erarbeitung von Kristinas Gefühlen und Sorgen
Damit die Schüler die innere Zerrissenheit und Unsicherheit Kristinas besser nachvollziehen können, bieten sich vor allem produktionsorientierte Aufgabenstellungen an. Die Klasse kann Kristina z. B. in einem Tagebuch die Handlung kommentieren lassen. Jeder Schüler soll zu einem der 25 Kapitel einen Tagebucheintrag verfassen. Die Texte werden dann ausgetauscht und von einem Mitschüler korrigiert bzw. mit Anmerkungen versehen. Dabei soll nicht nur auf sprachliche Richtigkeit, sondern auch auf den Ausdruck (Ist das Kristina, die dort schreibt?) und besonders auf den Inhalt (Würde Kristina das in dieser Situation denken oder fühlen?) geachtet werden. Nach der Überarbeitung werden die Einträge in kleinen Gruppen nochmals besprochen und wieder optimiert. Anschließend werden sie abgetippt und per E-Mail an den Lehrer verschickt, der sie als kleines Heft kopieren kann. Somit wird die gesamte Handlung nochmals aus Kristinas Sicht wiedergegeben. Alternativ können natürlich auch nur einzelne Passagen des Textes zu einem Tagebuch oder inneren Monologen umgeschrieben werden. Die Merkmale eines inneren Monologes können dabei sehr gut mithilfe eines Beispiels aus dem Text (z. B. S. 54 ff.) erarbeitet werden.

Kulturelle Unterschiede am Beispiel Schule
Kristina fallen schon beim ersten Besuch in ihrer neuen Schule in Deutschland zahlreiche Unterschiede zum polnischen Schulsystem auf. Hierbei geht es nicht um formale Aspekte wie Tagesrhythmen oder Abschlüsse (die evtl. von einem Schüler, der persönliche Kontakte nach Polen hat, vorgestellt werden können), sondern vielmehr um den Umgang der Lehrer und Schüler miteinander. In der Lektüre wird dies am Beispiel des Rauchens verdeutlicht. Während in den polnischen Schulen der 1970er Jahre das Rauchverbot sehr streng und rigoros umgesetzt wird (S. 23–27), besprechen die Schüler in Deutschland in lockerem Ton mit der Sekretärin und auch dem Direktor einen Antrag auf ein Raucherzimmer (S. 145). Auch die Äußerlichkeiten werden in dieser Situation sehr deutlich beschrieben („Mit den Haaren, mit den ausgefransten Hosen wären die Burschen nicht einmal in die Nähe einer polnischen Schule gekommen.“, S. 145). Der Vergleich kann im Unterricht mit der Erarbeitung eines Sachtextes zum (angeblichen?) Werteverfall unserer Gesellschaft verbunden werden. Hierzu eignen sich z. B. die Kapitel II und III des Aufsatzes Brauchen wir eine Rückkehr zu traditionellen Werten? von Helmut Klages (In: Politik und Zeitgeschichte, Band 29/2001; online unter http://www.bpb.de im pdf-Format verfügbar [Stand: 11/ 2006]). Dieser Text und auch die Beobachtungen Kristinas regen in der Klasse eine emotionale Diskussion um Disziplin, Respekt und Pflichtbewusstsein an, die auch dem Lehrer interessante Eindrücke von den sehr unterschiedlichen Haltungen der Schüler (von „Hier ist alles viel zu streng, man wird total unterdrückt!“ bis hin zu „Die Lehrer sollten viel genauer kontrollieren und viel härter und autoritärer sein!“) geben.


empfohlen von Christiane Althoff


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