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Dear Nobody 1. Jugendbuchempfehlung

Berlie Doherty:

Dear Nobody

1. Bibliografische Angaben und Lesestufe

  • Berlie Doherty: Dear Nobody. München: dtv junior, 2004, 240 S. (übersetzt von Eva Riekert, Originaltitel: Dear Nobody,
    englische Ausgabe bei Klett)
  • Lesestufe: ab 8. Klasse

2. Inhaltsangabe

Berlie Doherty erzählt in ihrem 1991 erschienenen Roman die Geschichte von Helen und ihrem Freund Chris, zwei Schülern aus dem englischen Sheffield, die kurz vor dem Schulabschluss stehen. Helen erfährt zu diesem Zeitpunkt (im Januar), dass sie schwanger ist. Im Oktober – unmittelbar vor der Geburt des gemeinsamen Kindes und kurz vor seiner Abreise an die Universität – erhält Chris einen Karton mit Briefen, die Helen während der Schwangerschaft an das ungeborene Kind (mit der Anrede „Dear Nobody“) geschrieben hat. Er liest sie chronologisch und blickt dabei auf die Geschehnisse aus seiner Sicht zurück. Der Roman besteht in etwa gleichen Teilen aus Helens Briefen und Chris‘ Erinnerungen. Daraus ergibt sich ein immer genaueres Bild des jungen Paares und seines familiären Umfeldes:
Zunächst lehnt Helen das Kind völlig ab, möchte es am liebsten bei einem Ausritt  töten und lässt sich von ihrer Mutter in eine Abtreibungsklinik bringen. Dort wendet sich die Handlung: In ihrem Reifungsprozess wird Helen immer klarer, dass sie sich für das Kind entscheiden will. Sie trennt sich von Chris, da er in ihren Augen noch nicht reif genug für eine Vaterschaft ist. Chris‘ Liebe zu Helen ist zwar, wie deutlich wird, sehr stark, aber das Kind bleibt ihm sehr fremd, er entwickelt keinerlei Bindung zu ihm. Aus ihrer Situation heraus beginnen sowohl Helen als auch Chris, sich für ihre jeweiligen  Familiengeschichten zu interessieren.
Von ihren Eltern erhalten sie wenig Unterstützung: In Helens Familie existiert keine Kommunikationsstruktur und ihre Mutter hat große Probleme, die Schwangerschaft der Tochter zu akzeptieren. Auch Chris‘ alleinerziehender Vater ist völlig überfordert.
Bevor Chris die Stadt verlässt, um zu studieren, besucht er Helen im Krankenhaus. Er sieht seine neugeborene Tochter Amy und beschließt, ihre Geschichte für sie aufzuschreiben. Ob es für Helen und Chris nochmals eine gemeinsame Zukunft geben wird, bleibt offen.

3. Kurzinformationen zur Autorin

Berlie Doherty wurde 1943 in Liverpool geboren. Sie studierte Sozialwissenschaften, Englisch und Pädagogik in Durham, Liverpool und Sheffield und war dann in der Erwachsenenbildung und beim Schulfunk des BBC tätig. Seit 1983 widmet sie sich nur noch dem Schreiben.
Ihr Werk, von dem nur wenig ins Deutsche übersetzt ist, umfasst Jugendbücher (z. B. Mit Z fing alles an), Kinderbücher (z. B. Die schönsten Märchen), Bilderbücher, eine Kinderoper und zahlreiche Kurzgeschichten, aber auch Stücke für Fernsehen, Radio und Bühne. Einige ihre Bücher – so auch Dear Nobody – wurden verfilmt.
Die Autorin erhielt zweimal die Carnegie Medal (eine wichtige britische Auszeichnung für Kinder- und Jugendliteratur), einmal davon für Dear Nobody. 2002 wurde ihr der Ehrendoktortitel der Universität von Derby verliehen; 2005 stand sie auf der Auswahlliste für den schwedischen  Astrid Lindgren Memorial Award. Eine direkte Kontaktaufnahme im Unterricht ist über ihre Internetseite www.berliedoherty.com möglich.

4. Allgemeine Einordnung

Dear Nobody ermöglicht im Deutschunterricht der 8. Klasse oder auch in höheren Jahrgangsstufen den Zugang zu zahlreichen unterschiedlichen Themen: Die Beziehung von Chris und Helen kann im Mittelpunkt stehen und der Umgang der beiden mit der neuen Lebenssituation verglichen werden. Es ist aber auch möglich, die Auseinandersetzung mit der ungewollten Schwangerschaft, die auf den ersten Blick im Vordergrund steht, zu vernachlässigen, und sich eher mit dem gesellschaftlichen Umfeld des Paares (Situation alleinerziehender Elternteile, Probleme unehelicher Kinder, die Selbstverwirklichung von Chris‘ Mutter) zu beschäftigen. Zudem bietet der Text zahlreiche Möglichkeiten für eine formale Analyse der Erzählperspektive, der Sprache oder der Metaphorik. Fächerübergreifend kann mit dem Englisch- (Schulsystem in Großbritannien, Vergleich einiger Textstellen mit dem englischen Original) und Ethikunterricht (Schwangerschaftsabbruch) zusammengearbeitet werden. Natürlich können die vorgeschlagenen Themen aber auch als Referate in den Deutschunterricht integriert werden.
Die Handlung spricht sowohl Schülerinnen als auch Schüler an, da beide Geschlechter starke Identifikationsmöglichkeiten finden. Gerade die Perspektive des Jungen, der ungewollt Vater wird, ist dabei sehr interessant: In der öffentlichen Diskussion stehen zumeist die ungewollt schwangeren Mädchen im Mittelpunkt. Aufgrund der Identifikation – dass die Romanfiguren Helen und Chris einige Jahre älter sind als die Schüler, stört dabei nicht – löst das Buch sogleich rege Diskussionen aus, denen zunächst Raum gelassen werden sollte. Beim Einsatz des Romans ist noch zu bedenken, dass er auch in der 11. Jahrgangsstufe im Englischunterricht gelesen werden kann; hier empfiehlt sich also eine Absprache mit dieser Fachschaft.

5. Strukturelle und sprachliche Besonderheiten

Dear Nobody umfasst 240 Seiten, die in elf Kapitel aufgeteilt sind. Diese tragen jeweils den Namen eines Monats (von Januar bis November) als Überschrift und sind unterschiedlich lang.
Das Buch lebt von der spannenden Verknüpfung der zwei Erzählperspektiven: Die Briefe Helens aus der Zeit der Schwangerschaft verbinden sich mit Chris‘ Erinnerungen, der beim Lesen der Briefe auf diese Monate zurückblickt. Die beiden Ich-Erzähler berichten also mit Hilfe zweier unterschiedlicher literarischer Gattungen: Autobiografie und Briefroman (oder Tagebuch). Es gibt nur eine sehr knappe Rahmenhandlung, die mit einem Brief von Helen an Chris endet, in dem sie sehr gereift auf ihre jetzige Lebenssituation als junge Mutter blickt. Sprachlich dürfte der Text für die Schüler unproblematisch sein. Chris‘ Sprache ist sehr schlicht, oft an der Umgangssprache orientiert, allerdings auch mit einzelnen Metaphern und Motiven versehen. Helens Sprache ist wesentlich anspruchsvoller, sie benutzt komplexere Satzstrukturen und zahlreiche Stilmittel wie rhetorische Fragen, Metaphern und Lautmalerei („Der Hahn tropft weiter, eine schlaflose Nacht um die andere. Was mach ich, wenn … was ist, was, was, was wenn ich …“, S. 62). Insgesamt ist ihre Sprache anschaulicher und eindringlicher und zeugt von ihrer ausgeprägteren Reife. Diese Unterschiede herauszuarbeiten, kann im Unterricht sehr gewinnbringend sein.

6. Didaktische Anregungen

Unterrichtseinstiege
Falls die Schüler das Buch noch nicht gelesen haben, kann man über eine Bildmeditation in das Thema einsteigen: Das Cover wird den Schülern auf einer Farbfolie präsentiert. Sie äußern sich spontan zu ihren Eindrücken und spekulieren, in welchem Verhältnis die Personen zueinander stehen; hierbei sollten die Gesichtszüge der beiden Figuren (ängstliche Blicke, unsicheres Zurückblicken) beachtet werden. Aber auch die Briefausschnitte auf dem Titelbild werden den Schülern auffallen. Die Ergebnisse können auf einem Plakat festgehalten und nach dem Lesen der ersten Seiten nochmals aufgegriffen werden. Auch der Titel bietet sich für einen assoziativen Zugang an (Wer oder was ist ein Nobody?). Nach einigen Schüleräußerungen kann der Anfang vom Brief des 27. Februar (S. 52) oder des 6. Juni (S. 148) vorgelesen werden. Die Schüler beschreiben anschließend in einem Blitzlicht (d. h. jeder Schüler muss sich äußern, darf dies aber nur in einem Satz tun), in welchem Konflikt sich die Briefschreiberin befindet und warum sie diese Anrede verwendet.
Das Buch kann aber auch zunächst selbstständig von den Schülern vorbereitend gelesen werden, was aufgrund der klaren Sprache und der verständlichen Handlung keine Probleme bereitet. Dann kann der Einstieg z. B. über eine Kartenab-frage erfolgen. Die Schüler notieren und clustern ihre Fragen an Helen (Warum hast du Chris verlassen? Was hat dich dazu bewegt, die Klinik zu verlassen? Wie stellst du dir deine Zukunft vor?) und Chris (Wirst du den Kontakt zu Amy aufrecht halten? Was hast du gedacht, als Helen sagte, sie sei schwanger?). Einige können dann vielleicht von der Gruppe bereits beantwortet werden, andere sind Gesprächsanlass für eine Diskussion und wieder andere können im Verlauf der Unterrichtsreihe aufgegriffen und bearbeitet werden. Daher sollte man die Fragen in der Klasse aufhängen. Alternativ können die Schüler bei der Kartenabfrage auch aufschreiben, was ihnen bei der Lektüre positiv bzw. negativ aufgefallen ist und was sie nicht verstanden haben. Auch hier sollten die Karten dann in Gruppen oder im Plenum sortiert werden.

Die zentralen Figuren Chris und Helen
Um die (sehr unterschiedliche) Entwicklung der beiden Protagonisten nachvollziehen zu können, ist es sinnvoll, zunächst eine Übersicht über die Handlung anzulegen. Hierzu wird von den Schülern folgende Tabelle arbeitsteilig ausgefüllt:

Anschließend erstellen die Schüler für beide Personen ein Stimmungsbarometer (x-Achse: Zeitleiste, y-Achse: Stimmung von überglücklich/euphorisch bis verzweifelt). Dabei wird der Wendepunkt (die Peripetie) in Helens Verhalten deutlich (ab S. 115 mit dem Verlassen der Abtreibungsklinik), der die Besprechung ihres Reifungsprozesses einleiten kann. Helens und Chris‘ Charakter können sich die Schüler auch nähern, indem sie aus der Sicht jeweils eines Lehrers einen Abschlussbericht verfassen, in dem Schulleistung, soziales Engagement, Beziehungen zu Klassenkameraden und Lehrern sowie außerschulische Aktivitäten beschrieben werden.
Besonders wichtig ist es den Schülern, Helens und Chris‘ Geschichte weiterzuschreiben und Prognosen anzustellen, ob und unter welchen Bedingungen es für das Paar noch eine Zukunft geben könnte. Dies führt nochmals zu einer genauen Auseinandersetzung mit Chris‘ Verhalten gegenüber dem Kind, zu dem er während der Schwangerschaft überhaupt kein Verhältnis aufbaut („Und ich war der Vater. Ich versuchte mir den Klang dieses Wortes klar zu machen und es ging nicht.“, S. 84).

Das familiäre Umfeld
Zentral bei der Besprechung sollte auch das Umfeld der beiden Hauptpersonen sein. Chris wächst mit seinem Bruder bei seinem Vater auf, die Mutter hat die Familie vor vielen Jahren verlassen. Die Probleme, die sich aus dieser Familienkonstellation ergeben, kann man mithilfe eines Gruppenpuzzles erarbeiten. Als vorbereitende Hausaufgabe liest jeder Schüler eine vorgegebene Textstelle zu Chris‘ Familiengeschichte. Hier bieten sich folgende Stellen an:

  • das Gespräch zwischen Chris und seinem Vater über das Fortgehen der Mutter (S. 20–24),
  • der erste Brief der Mutter Joan an Chris (S. 32),
  • als Chris‘ Vater seine Jugendfotos zeigt (S. 118 f.)
  • und der erste Besuch bei Joan (S. 138–143).

Die Schüler notieren, was man über Chris‘ Familienleben erfährt. Diejenigen, die dieselbe Textstelle gelesen haben, tauschen die Ergebnisse zunächst aus. Nun werden neue Gruppen gebildet: Jeweils vier Schüler, die unterschiedliche Textstellen vorbereitet haben, setzen sich zusammen. Sie formulieren einen Vortrag aus, der wie folgt beginnen kann:

  • „Ich bin Chris, ich kann wieder mal nicht einschlafen, gerade denke ich über die Beziehung meiner Eltern nach …“
  • „Ich heiße Joan. Ich habe meine beiden Söhne verlassen, viele verstehen das nicht, aber ich …“
  • „Ich bin der Vater von Guy und Chris. Ob ich mit meinem Leben zufrieden bin, wollen sie wissen? …“
  • „Ich bin seit Jahren die Nachbarin von Chris‘ Familie. Wenn man so Tür an Tür lebt, bekommt man ja so einiges vom
    Familienleben mit. Manchmal tun mir die Jungen schon leid, weil …“

Die Texte werden der Klasse vorgestellt und kritisch reflektiert, es können z. B. Begründungen für bestimmte Aussagen von den Gruppen eingefordert werden. Natürlich ist bei dieser Thematik zu bedenken, dass mittlerweile durchschnittlich die Hälfte aller Kinder (mit großen regionalen Schwankungen) nicht mehr in traditionellen Familien lebt und diese Umbrüche (Scheidung, neue Heirat der Eltern, Leben in Pflegefamilien) eine schwere Lebenskrise für die Kinder und Jugendlichen bedeuten können. Ein Aufgreifen im Unterricht kann insofern problematisch sein und sollte eventuell mit dem Klassenlehrer abgesprochen werden.

Auch Helens familiäres Umfeld birgt zahlreiche Probleme. Ihre Eltern leben aneinander vorbei und Helen erfährt nur bei ihrem nicht-leiblichen Großvater Geborgenheit. Ausgangspunkt für eine Analyse dieser gestörten familiären Beziehungen, die sich vornehmlich in der Sprachlosigkeit der Mitglieder zeigen, kann der Ausruf Helens „Hilf mir, Mum.“ (S. 167) sein, den sie in einem ihrer Briefe niederschreibt. Der gesamte Brief (S. 167 f.) wird gemeinsam gelesen. Anschließend formulieren die Schüler Helens Wünsche an ihre Mutter oder schreiben einen Dialog zwischen Helen und ihrem Großvater, in dem Helen erklärt, warumsie sich zu Hause so unverstanden fühlt. Zum Abschluss kann man die beiden schwierigen Familienkonstellationen mit der von Helens Freundin Ruthlyn vergleichen: Ruthlyn lebt zwar auch ohne ihren Vater, in ihrem Zuhause herrscht aber (in deutlichem Kontrast zu Helens Familie) eine sehr warmherzige Stimmung (vgl. S. 50 f.).

Untersuchung der Sprache
Zwei Leitmotive ziehen sich durch die gesamte Handlung: die Metapher des Vogels und das Spiegelmotiv. Um die für die Schüler mühsame Suche nach Textstellen zu verkürzen, kann man schon beim Erstellen der Handlungsübersicht (s. o.) auf diese achten und die entsprechenden Seiten in die Tabelle eintragen (Spiegel: S. 11, 17, 33, 37, 70, 130, 131; Vogel: S. 10, 41, 48, 55, 59, 68, 102, 112, 148, 157, 177, 179, 233).
Das Spiegelmotiv steht für Helens Zerrissenheit, aber auch ihre Identitätsfindung. Der Vogel hat völlig unterschiedliche Bedeutungen: Er bedeutet Freiheit, wirkt bedrohlich und unkontrollierbar (Helens Mutter bewegt ihre Hände „durch die Luft wie Vögel“, S. 102, als sie von der Abtreibung spricht) und symbolisiert den Tod (ein Vogel liegt tot auf dem Parkplatz der Klinik). Er spiegelt jeweils Helens Emotionen und ihre Beziehung zu Chris wider. Die Analyse muss in der 8. Jahrgangsstufe voraussichtlich eng angeleitet werden.

Arbeit mit inhaltlich weiterführenden Fragestellungen
Neben einer sehr textimmanenten Arbeit bietet sich das Buch auch dazu an, weiterführende Themen im Deutschunterricht (oder fächerübergreifend in Ethik, Politik oder Biologie) zu diskutieren. Diese sollten sich an den Fragen der Schüler orientieren.
Es können beispielsweise Referate über die Konsequenzen einer Schwangerschaft und einer Abtreibung (aus medizinischer, sozialer, ethischer, juristischer oder auch psychologischer Sicht) gehalten werden. Dazu schreiben die Schüler ergebnissichernd und als Textbezug einen Monolog aus der Perspektive einer weiblichen Figur des Romans (Helens Mutter, Helens Großmutter, Chris‘ Mutter, Tante Jill), in dem diese darstellt, wie die Schwangerschaft und das Kind sie und ihr Leben verändert haben.
Möglich ist auch eine Auseinandersetzung mit neuen Familienformen (hoher Anteil Alleinerziehender oder Patchworkfamilien in der Gesellschaft) und individualisierten Lebensformen (Selbstverwirklichung von Chris‘ Mutter). In diesem Zusammenhang kann die heutige Stellung unehelicher Kindern untersucht und ermittelt werden, welche Rechte und Pflichten Chris (nach deutschem Recht) nun gegenüber Amy hat.


Empfohlen von Christiane Althoff


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